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Historie

Wie alles begann

 

Pioniere der Lebenshilfe rückten mit Engagement und Schippe an

 

Zweifelsohne: 50 Jahre Lebenshilfe Gelnhausen, das ist ein guter Grund zu feiern. Außergewöhnliche Anlässe wie diese, sollten aber auch außergewöhnliche Rückblicke erlauben. Rückblicke, in jene Zeit, als sich eine Gruppe von Eltern streitbar und engagiert auf den „Marsch durch die Institutionen“ machte. Eltern, die später zu den „Gründervätern“ der hiesigen Lebenshilfe zählen sollten. Eltern, die vor heute kaum zu glaubenden Problemen standen. Setzen wir uns doch einfach mal zurück in die frühen 60er Jahre des vergangenen Jahhunderts. Damals im Schatten der Kaiserpfalz…


Längst schon hatten sich die Bewohner der Garnisionsstadt Gelnhausen an das laute Grollen amerikanischer Panzermotoren gewöhnt. Geschickt steuerten die „GI´s“ der Coleman Kaserne ihre tonnenschweren Gefährte durch die Straßen. Beinahe 20 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs waren die Bürger auch hier aus dem „Gröbsten“ heraus. Inzwischen konnte „man“ sich auch wieder etwas leisten. Die ersten Fernseher - groß wie Vitrinen und schwerer als ein Sack voller Kohlen - zogen in die guten Stuben ein.

 

Das deutsche Wirtschaftswunder, aber auch eine Mutter aus Roth namens Emmi Gackenheimer, hatten Fahrt aufgenommen.

 

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Sie zählte zu den Gründungsmitgliedern der Lebenshilfe Gelnhausen und war seit dem auch Mitglied im Vorstand des eingetragenen Vereins.
„Ich bin eine einfache Frau“, beschrieb die Zeitzeugin sich selbst. „Ich war ungebildet, schüchtern und zurückhaltend.“
Doch das sollte sich alles ändern, nachdem ihre geistig behinderte Tochter Anne zur Welt kam. Insbesondere, als es darum ging, die Tochter in einer für sie geeigneten Schulform unterzubringen.

 

„Die gab es nämlich nicht“, berichtete Emmi Gackenheimer, „und es war ein Kampf, das Kind in die Schule zu bekommen.“
 

Sie ahnte da noch nicht, dass erst jetzt ihre große Institutionen-Reise von „Pontius nach Pilatus“ begonnen hatte. Eine Nachbarin wies die verzweifelte Mutter auf einen Fernsehbericht hin, der schließlich das Rad ins Rollen brachte, an dem sie bis zu ihrem Tod engagiert mitdrehte.


Der besagte Fernsehbericht stellte nämlich die erste Frankfurter Schule vor, die geistig behinderte Kinder aufnahm. Darüber wollte Emmi Gackenheimer mehr wissen. Deshalb machte sie sich unverzüglich auf den Weg in die Bankenstadt und fuhr enttäuscht zurück. Erfuhr sie doch, dass ausschließlich in Frankfurt gemeldete Kinder diese Schule besuchen durften.

 

„Damals gab es noch nicht das Recht auf freie Schulwahl“, erläuterte das Vorstandsmitglied der Lebenshilfe Gelnhausen.
 Nun aber stand für sie fest: Was in Frankfurt möglich war, muss auch hier - im Altkreis Gelnhausen - machbar sein. Sie nahm Kontakt mit den Lehrern der hiesigen  „Schule für Lernbehinderte“ auf. Sie informierte sich und suchte Verbündete. Einen fand sie beispielsweise im damaligen Geißlitzer Bürgermeister Braun.
„Er begleitete mich zu einem Termin ins Wiesbadener Kultusministerium, wo ich zum ersten Mal mein Anliegen an offizieller Stelle vortrug", erinnerte sich Emmi Gackenheimer.
Sie ließ sich aber nicht von einem simplen „wir kümmern uns darum" seitens eines Ministeriumsmitarbeiters abspeisen. Inzwischen hatte sie nämlich festgestellt, dass sie nicht allein vor dem Problem stand, ihr Kind einzuschulen. Insgesamt 12 Elternpaare standen damals vor dem gleichen Dilemma.


Darüber berichtete im Jahr 1989 auch Bernd Bohlender - der einstige Rektor der Altenhasslauer Martinschule. Die „Schule für Praktisch Bildbare" veröffentlichte anlässlich des 25-jährigen Bestehens eine mehr als 70 Seiten umfassende Fest-Broschüre, in der Bohlender den damaligen Stand der Dinge beleuchtete.


„Vor etwa 30 Jahren erst", hielt der Rektor mit Blick auf die frühen 60er Jahre fest, „wurde dem geistig behinderten Kind in der Öffentlichkeit besondere Zuwendung zuteil. Die Gründung der ersten Sonderklassen für geistig Behinderte waren von Ideen aus dem  Sonderschullehrerverband und von der Bundesvereinigung der Lebenshilfe in Marburg beeinflusst. Engagierte Kollegen unterrichteten bereits in sechs Städten Hessens geistig Behinderte in einzelnen Sonderschulklassen für Praktisch Bildbare."


Wie Bernd Bohlender, hatten auch seine Sonderschul-Kollegen mit geistig behinderten Kindern kaum Erfahrungen gemacht. Das wird auch durch eine Begebenheit deutlich, die Bohlender in der Festzeitschrift von 1989 beschrieb: „Ich selbst erinnere mich in dieser Situation an eine Studienfahrt nach Holland im Jahr 1962. Dort gab es bereits seit Jahrzehnten ein ausgebautes Schulwesen für geistig Behinderte mit vor- und nachschulischen Einrichtungen."

 

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Neben diesem eher allgemein gehaltenen „Ist-Zustand" jener Ära, beschrieb Bernd Bohlender aber auch die konkreten Probleme: „Im Jahre 1963 wurden 12 Kinder für eine noch nicht bestehende schulische Einrichtung zur Förderung geistig- und auch mehrfachbehinderter Kinder von den beiden Sonderschullehrern Herrn Sprenzel und mir überprüft. Es waren Kinder, die unter dem Begriff der Bildungsunfähigkeit fielen und von der Schulpflicht befreit waren."

 

Zu eben jenen „bildungsunfähigen" Kindern zählte auch die Tochter von Emmi Gackenheimer.
„Ich war mit Herrn Bohlender nicht immer einer Meinung, aber die Lebenshilfe, die betroffenen Eltern und natürlich in erster Linie unsere Kinder haben ihm eine Menge zu verdanken.

Während wir Eltern den Kampf für eine geeignete Schulform auf unsere Weise aufnahmen, machte er sich mit großem Engagement über den Dienstweg für uns stark", lobt sie seinen Einsatz während der Gründerjahre.

Die Gelnhäuserin hatte längst alle Schüchternheit abgelegt, um die Sache voranzutreiben. Eine mögliche Lehrerin war auch gefunden.
„Doch sie absolvierte mangels geeigneter deutscher Studienplätze ihre Ausbildung in der Schweiz. Ihr Studium wurde bei uns zunächst nicht anerkannt. Ich setzte mich deshalb mit der Schulbehörde in Verbindung und erhielt nach einem intensiven Gespräch mit einem Oberschulrat, dessen Namen ich inzwischen vergessen habe, eine Zusage", erinnerte sich Emmi Gackenheimer.

 

Auch Bernd Bohlender wies in seinem Festschrift-Bericht auf weitere Aktionen hin, die von den Eltern ausgingen: „Zu Beginn des Jahres 1964 wandten sich 12 Eltern an den Regierungspräsidenten in Darmstadt, und zwei Eltern fuhren nach Wiesbaden, um vor Ort ihre Sorgen vorzutragen."


„Das war mein zweiter Besuch im Wiesbadener Kultusministerium", schmunzelte Emmi Gackenheimer, „und ich blieb bei der erneuten Begegnung mit dem Ministeriumsmitarbeiter nicht mehr so freundlich."

 

Doch nun hatten die Eltern zumindestens einen Teilerfolg in Form einer formellen Zusage erkämpft. Was jetzt aber noch fehlte, war ein geeignetes Gebäude. Die Eltern hatten sich inzwischen in der Umgebung umgeschaut. Sie stießen auf eine alte leerstehende Schule in Geißlitz. Es bedurfte zwar einiger Umbauten, aber hier könnte ein Anfang geschaffen werden.


Beseelt von dieser Idee kam es zur ersten Begegnung zwischen Emmi Gackenheimer und dem Landrat Heinrich Kreß.
„Ein Mann, der das Herz am rechten Fleck hatte", wie sie im Nachhinein feststellte.


Damals aber „krachte" es zunächst einmal gewaltig zwischen den Beiden. Was heute allein aus Sicherheitsgründen kaum möglich erscheint, gelang Emmi Gackenheimer damals ohne Weiteres: Sie betrat unangemeldet das Landratsamt, sah Heinrich Kreß aus seinem Büro kommen, nahm ihn zur Seite und trug ihm ihr Anliegen vor.
„Kein Geld.", entgegnete ihr der Landrat, "Wir planen gerade das Gelnhäuser Krankenhaus."

 

Emmi Gackenheimer erinnerte sich noch genau an ihre damalige Erwiderung: „Ich sagte zu ihm: Und unsere Kinder können ganz verblöden."

 

Diese drastischen Worte hatten Heinrich Kreß offensichtlich berührt. Wer weiß? Vielleicht gab er gerade deshalb nicht nur „grünes Licht" für das Vorhaben, sondern machte sich später auch als langjähriger Vorsitzender und Mitstreiter der Lebenshilfe Gelnhausen einen Namen. Zu diesem Zeitpunkt aber, dachte noch niemand an deren Gründung.


„Wir als Eltern hatten damals nur ein Ziel, nämlich das Schulgebäude bezugsfähig zu machen", berichtete die Gelnhäuserin. Bald schon hatte dann in der zweiklassigen Geißlitzer Dorfschule, die wegen der großen Schulreform „freigezogen" wurde, ein emsiges Treiben eingesetzt.

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Doch weder das Schulamt noch das  Kultusministerium setzten Bauunternehmen für die notwendigen Handwerksarbeiten ein. Vielmehr nahmen die Eltern das Heft des Handelns erneut selbst in die Hand.


"Wir haben die Klassenräume gestrichen, Toiletten umgerüstet, rollstuhl-gerechte Rampen und einen Spielplatz in Eigenarbeit gebaut. Viele Väter griffen nach ihrem eigentlich wohlverdienten Feierabend tatkräftig zu Schippe und Schubkarren", blickte Emmi Gackenheimer auf die Pioniere jener Zeit zurück, zu denen sie aber auch selbst zählte. Dann endlich, zum Schuljahresbeginnn Ostern 1964, konnte der Unterricht beginnen.

 

Die engagierte Mutter stellte stolz fest: „So entstand im hessischen Landkreis die erste Schule für Praktisch Bildbare."


Auch nach der Schulgründung besaß beinahe jede Tätigkeit einen gewissen Pioniercharakter. So arbeitete zum Beispiel der Schulhausmeister gleichfalls als Fahrer. "Er fuhr übers Land, holte unsere Kinder von daheim ab und brachte sie nach dem Unterricht wieder zurück", erinnerte sich die Mitachzigerin. Die Transportfahrten fanden in einem von der „Aktion Sorgenkind" (Vorgänger-Organisation der  „Aktion Mensch") gespendeten Bus statt. Die Fahrtkosten und andere Schulbelange wurden über das Landratsamt abgewickelt. Infolgedessen kam es immer wieder zu Begegnungen zwischen der Gelnhäuserin und Heinrich Kreß.

 

Ein Jahr später zog eine zweite Klasse in die Schule ein. Später wurde auf dem Schulgelände auch noch ein Pavillion mit Schreinerwerkstatt für den Werkbereich errichtet.

 

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Es stellte sich aber heraus, dass mit wachsender Schülerzahl auch die finanziellen Bedürfnisse der Schule wuchsen. Es gab mittlerweile zwar einen zweiten „Spendenbus" -  doch die Eltern hatten nur wenig Fürsprecher.


Das hatte auch Bernd Bohlender erkannt und wurde auf seine Weise tätig. In der besagten Schul-Jubiläumsschrift beschreibt er, wie und weshalb es zur Gründung der Lebenshilfe Gelnhausen kam: „Um das Anliegen der Behinderten und ihrer Eltern in der Öffentlichkeit wirksamer vertreten zu können, sollte auch bei uns eine Elternvereinigung nach der bundesdeutschen Empfehlung der Lebenshilfe in Marburg gegründet werden.

Auf einer Tagung in Kärnten bat ich den Initiator der Bundesvereinigung der Lebenshilfe, Herrn Mutters, um Mithilfe bei der Gründung der Kreisvereinigung Gelnhausen. Der Festakt zur Gründung fand im November 1966 in Gelnhausen statt." Diesem Festakt wohnte auch Tom Mutters bei.

 

Bohlender berichtete weiter: „Auf der konstituierenden Sitzung der Kreisvereinigung wurde Landrat Heinrich Kreß zum 1. Vorsitzenden und die Schulräte Herr Schmittel und Herr Schreier zu seinen Stellvertretern gewählt; ich übernahm die Geschäftsführung." In jenen ersten Vorstand wurde aber auch einige der betroffenen Eltern gewählt, so auch Emmi Gackenheimer.
„Bald schon setzten wir uns neue Ziele", dachte sie an die Anfänge zurück, „Wir fragten uns damals unter anderem, was aus unseren Kindern werden sollte, wenn wir Eltern nicht mehr da sind. Wir suchten nach geeigneten Wohnformen."


So erwuchs die Idee, eine Wohnstätte zu errichten. In seiner Doppelfunktion als Landrat und Lebenshilfe-Vorsitzender, nutzte Heinrich Kreß deshalb jede Gelegenheit, neue Mitglieder und Spender anzuwerben. Gemeinsam trieben die Vorstandsmitglieder das Vorhaben voran, so dass dann im Jahr 1979 in Birstein die erste Wohnstätte für geistig-behinderte Menschen im Umland ihre Pforten öffnete. Später ermöglichte die Gelnhäuser Lebenshilfe auch die Gründung der Altenhaßlauer Werkstatt.


„Unsere Aufgaben wurden für im Ehrenamt tätige Menschen immer umfangreicher. Es war an der Zeit, die Arbeit in professionelle Hände zu übergeben. Deshalb entwickelten wir in Partnerschaft mit den Lebenshilfevereinen in Hanau und Schlüchtern, dem Verein für Körper- und Mehrfachbehinderte und dem Main-Kinzig-Kreis die Idee zur Gründung des Behindertwerk Main-Kinzig (BWMK). Diese Idee wurde schließlich im Jahr 1974 umgesetzt. Die Lebenshilfe überschrieb dem BWMK ihre bereits bestehenden Einrichtungen. Das war eine gute Entscheidung", resümierte die Frau der „ersten Stunde".
 

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Und so schließt sich auch der Kreis dieses Berichtes, dessen erste Bögen die Pionere der Behindertenarbeit durch ihr Engagement aufzeichneten. Pioniere wie Heinrich Kreß, Bernd Bohlender oder Emmi Gackenheimer. Denn die "GI´s zogen ab. In Gelnhausen verstummte das Grollen der Panzermotoren. Die Coleman-Kaserne wurde vor Jahrzehnten aufgelöst, doch die Gebäude blieben erhalten.

In eines dieser Gebäude zog die Verwaltung des BWMK ein.

Frau Emmi Gackenheimer ist mittlerweile verstorben.

 

 

Grafiken von Volker Keller

 

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